HT 2023: Der umstrittene Leviathan. Staatlichkeit und Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland.

HT 2023: Der umstrittene Leviathan. Staatlichkeit und Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland.

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
PLZ
04107
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Lisa Marie Freitag, Historisches Institut, Universität Potsdam

Spätestens seit der Frühen Neuzeit mit der Aufstellung der Stehenden Heere in Europa, ist das Verhältnis zwischen Staat und Militär unstrittig nachzuweisen. Die bisherigen Forschungsarbeiten fokussieren sich vor allem auf die Frühe Neuzeit, kaum jedoch auf die Zeitgeschichte.1

An dieser Forschungslücke setzte die Sektion „Der umstrittene Leviathan. Staatlichkeit und Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland“ im Rahmen des 54. Deutschen Historikertages in Leipzig an. Dabei nahmen die Panellist:innen den Ost-West-Konflikt in den Blick, um zu verdeutlichen, wie stark das Militärische in Politik, Gesellschaft und Kultur der Bundesrepublik verankert war. Hierbei spielte auch die bis heute anhaltende Ambivalenz eine Rolle, die geprägt ist von dem Unbehagen der Deutschen mit Armee und Militär als Nachwirkung des Dritten Reiches und den Verbrechen der Wehrmacht, einerseits und der Existenz des Militärs als Ausdruck der Souveränität des Staates, andererseits.

Eröffnet wurde die Sektion von CHRISTOPH NÜBEL (Potsdam), der in seiner Einführung einen „Boom“ der Staatlichkeit als Forschungsproblem konstatierte und dabei zudem auf die politische Aktualität der Thematik – initiiert durch die Corona-Pandemie, die sich zuspitzende Debatte um die Klimakrise und nicht zuletzt durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine – verwies. Vor allem letzterer habe die Gesellschaften im 21. Jahrhundert auf die enge Wechselbeziehung zwischen Staatlichkeit und Streitkräften aufmerksam gemacht. Das führt letztlich auch zu einem breiteren Interesse der Öffentlichkeit an militärhistorischen Themen. Nübel wagte sodann eine Tour d‘Horizon durch die Entwicklung der deutschen Streitkräfte nach 1945 und arbeitete heraus, dass mit dem Militär immer auch das nationale Selbstverständnis verhandelt wurde. Als analytische Leitlinie der Sektion verwies er auf das Konzept der „Staatlichkeit“, das den „Staat“ als Konstrukt begreifen lässt, der in Diskurs und Praxis hervorgebracht wird.

Im Anschluss diskutierte Nübel den Umgang des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg) mit den heterogenen Gruppierungen, die als „1968er“-Bewegung zusammengefasst werden können. Die Rolle der Streitkräfte sei in dieser Zeit besonders umstritten gewesen, was jedoch in der Forschung bislang wenig Aufmerksamkeit gefunden habe. Der Vortrag ging einerseits auf die Krisenprognosen des BMVg und andererseits auf die Gegenmaßnahmen des Ministeriums ein. Dort sah man die „1968er“ als Gefahr für Staat und Armee, wobei insbesondere die Beteiligung von Bundeswehrsoldaten an den sogenannten Aktionen als problematisch beurteilt wurde. Das Ministerium prüfte daher Gegenmaßnahmen. Einzelne Abteilungen des BMVg erwogen, die Rechtslage zu verschärfen und politische Partizipationsrechte von Soldaten, die im Soldatengesetz festgehalten waren, zu streichen. Damit konnten sie sich jedoch letztlich nicht durchsetzen. Insgesamt machte das von Nübel analysierte Beispiel deutlich, dass das BMVg auf die „1968“ herausgeforderte Staatlichkeit nicht einheitlich reagierte, sondern es innerhalb der Hardthöhe unterschiedliche Auffassungen gab, wie mit dem Protest umzugehen sei.

THORSTEN LOCH (Hamburg/Potsdam) fokussierte in seinem anschließenden Vortrag auf das Staatsverständnis von Generalen in der Bundeswehr und der Nationalen Volksarmee (NVA). Nachdem er in einem kurzen Abriss auf die Entwicklungslinien von Staat und Militär in der deutschen Geschichte seit den europäischen Revolutionen und der Zeit Napoleons einging, skizzierte Loch den Aufbau der beiden deutschen Streitkräfte nach 1945. In der Bundesrepublik sei mit der Bundeswehr eine Armee geschaffen worden, die dem Staat dienen und der Demokratie verpflichtet sein sollte. Um den Aufbau zu realisieren, griff die bundesdeutsche Politik auf die Expertise ehemaliger Wehrmacht-Generale zurück. Trotz eindeutiger Umbrüche in den politischen und militärischen Gegebenheiten, hätten die Generale der nunmehr gegründeten Bundeswehr ein durchaus positives Staatsverständnis gehabt. Sie verstanden ihren militärischen Beruf vorwiegend als Profession und knüpften dabei an bereits tradierte (militärische) Werte aus der Vergangenheit an. Dadurch könne man auch die Kontinuitäten in vielen militärischen Traditionen und Werten erklären.

Im Gegensatz zur Bundesrepublik wurde in der DDR eine, in den Staat und die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), vollständig integrierte Armee geschaffen, in der die Generalität aus politisch profilierten und geheimdienstlich überwachten Berufsrevolutionären bestand. Die Ausrichtung der Armee sei somit auch eindeutig an der SED und der Sowjetunion orientiert gewesen. Die NVA könne somit nicht als eigenständige Institution gelten. Dabei hätten aber auch die Generale der NVA ein überwiegend positives Staatsverständnis gehabt oder sich zumindest mit der ihnen zugeschriebenen Rolle abgefunden.

HOLGER NEHRING (Stirling) fokussierte in seinem Vortrag auf die Friedensbewegungen in der Bundesrepublik nach 1945. Dabei untersuchte er die Protagonist:innen und deren Vorstellungen von Frieden, Militär und Staat. Der Hauptschwerpunkt der Kritik der frühen Nachkriegs-Friedensbewegungen lag noch vorwiegend auf der Politik Konrad Adenauers und weniger auf dem Konstrukt der Staatlichkeit an sich. In den 1970er- und vor allem dann in den 1980er-Jahren radikalisierten sich die Friedensbewegungen zunehmend. Während die Bundeswehr im Protest der frühen Atomwaffen-Gegner in den 1950er-Jahren noch eine untergeordnete Rolle gespielt hätte, geriet die bundesdeutsche Armee in den 1970er-Jahren „als Statist neben der Dominanz der USA“ zunehmend in den Fokus der Proteste gegen die Aufrüstung auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Dabei spielten vergangenheitspolitische Komponenten eine übergeordnete Rolle. So wurde vom „Vernichtungsfeldzug“ der USA gesprochen und die nachzurüstenden Pershing II-Raketen als „fliegende Verbrennungsöfen“ diffamiert. Somit stellte die Friedensbewegung einen direkten Vergleich der Staatlichkeit der modernen Demokratien zur Diktatur des Nationalsozialismus und den damit einhergehenden Verbrechen an der Menschlichkeit her. Die Bundeswehr sei bei derlei Diskussionen jedoch außen vorgeblieben. Der Schwerpunkt habe vorwiegend auf dem Verständnis des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft gelegen. Erst in den 1990er-Jahren mit den Golfkriegen und den militärischen Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien sei die Bundeswehr selbst Gegenstand von Friedensdebatten geworden.

BEATRICE DE GRAAF (Utrecht) und CHRISTINE KRÜGER (Bonn) verfolgten in ihren Ausführungen einen anderen Ansatz, indem sie das Verhältnis zwischen Staat und Militär bzw. bewaffneten Organisationen am Beispiel der internationalen Hausbesetzer:innen-Szene untersuchten. Dabei fokussierte de Graaf vorwiegend auf die Legitimität von Staatsgewalt in den Auseinandersetzungen mit Hausbesetzer:innen in den Niederlanden und in der Bundesrepublik in den 1980er-Jahren. Während die niederländische Regierung nach der Eskalation zwischen Politik und Hausbesetzer:innen das Militär einsetzte, sei dies in der Bundesrepublik nicht möglich gewesen. Man habe den niederländischen Rat gesucht, um die Probleme zu lösen, jedoch seien im Nachgang heftige Debatten um die legitime Antwort auf die Hausbesetzer:innen entbrannt, in denen sich die Bundesländer und Parteien unterschiedlich positionierten. Die Beispiele veranschaulichten den Zusammenhang zwischen Legitimität und Staatsgewalt, wobei der Ausgang sowie die gegenseitigen Reaktionen eine gewichtige Rolle spielten. Vor allem in den Niederländen sei darüber hinaus erkennbar, dass Streitkräfte ein Instrument und somit Teil der Umsetzung der Legitimität von Staatsgewalt darstellten.

Christine Krüger führte einen ähnlichen Vergleich zwischen bundesdeutschen und britischen Hausbesetzer:innen in London und Hamburg in den 1970er-Jahren durch. Dabei legte Krüger den Fokus ihres Vortrages vorwiegend auf die Wahrnehmung von Staat und Militär durch die Protagonist:innen der Hausbesetzer:innen-Szenen. In London wurde die Bewegung vorwiegend durch Kriegsveteranen des Zweiten Weltkrieges getragen, die auf ihr Prestige als Kriegshelden bauten. Wie in den zuvor genannten Beispielen von de Graaf, kam es auch in London im Zuge der Hausbesetzungen zu gewaltsamen Ausbrüchen zwischen Gerichtsvollziehern und Hausbesetzer:innen. Dabei wurde die Illegalität von Hausräumungen und Gewalt zwar verurteilt, der Staat an sich aber nicht infrage gestellt. Vielmehr wollte man auf Versäumnisse seitens der Politik aufmerksam machen und nach dem Verständnis des „welfare state“ Forderungen stellen, zu denen sich der Staat verpflichtet fühlen musste.

In Hamburg sei es ebenso nach diversen Hausbesetzungen im Jahr 1973 zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant:innen und Polizei gekommen. Dabei hätten die Hausbesetzer:innen die Beamten als Bürgerkriegsarmee und militante Institutionen wahrgenommen. Den Häuserkampf sahen die Protestant:innen als Symbol der Wehrhaftigkeit und der Kameradschaft in der Tradition des Klassenkampfes an. Auch hier fanden sich somit, ähnlich wie bei den von Holger Nehring beschriebenen Friedensbewegungen, Referenzen und Vergleiche zum nationalsozialistischen Regime wieder. So warfen die Hausbesetzer:innen in Hamburg der Polizei, und damit auch dem Staat, NS-Methoden vor. Dieses Beispiel verdeutlichte laut Krüger somit die durch und durch negative Wahrnehmung des Staates durch die Hausbesetzer:innen, die das Gewaltmonopol desselben infrage gestellt hätten.

Abschließend fasste HEIKE WIETERS (Berlin) die angesprochenen Punkte in Form von Diskussionsfragen an die Referent:innen zusammen. Dabei verwies sie auf die wichtige Thematik der Vergangenheitsbewältigung und dem damit, vor allem in der Bundesrepublik, schwierigem Umgang mit dem gewaltsamen Erbe des Militärs. Dies spiegele sich auch in den Konzeptionen von Staatlichkeit, um die die unterschiedlichen Akteur:innen immer wieder neu rangen.

Insgesamt veranschaulichte die Sektion in anregender Weise die vielfachen Wechselwirkungen zwischen Militär und Politik in der Zeitgeschichte. Dabei wurden neue Impulse für weitere Debatten und Forschungsprojekte gesetzt. Ebenso wurde deutlich, dass Staatlichkeit in der Praxis für viele gesellschaftliche Akteur:innen ein durchaus abstraktes Konstrukt ist, das es zu begreifen gilt. Dabei schienen immer wieder auch historische Bezugspunkte zum Verständnis von Staatlichkeit eine wichtige Rolle zu spielen. Das Erbe des Dritten Reiches und der Wehrmacht war insbesondere für die deutsche Bevölkerung eine schwere Last, die bis heute das Verhältnis von Politik, Gesellschaft und Bundeswehr beeinflussen. Darüber hinaus kann die Sektion als Plädoyer für den Ausbau von vergleichenden, vor allem internationalen Studien verstanden werden. Die hier vorgetragenen Beispiele stellten die Zeitgeschichte der Bundesrepublik in einen trans- und internationalen Kontext, um so den Horizont der Betrachtung zu erweitern. Davon kann die Geschichtswissenschaft im Allgemeinen in vielfältiger Form profitieren – zeigen derartige Studien doch auch, dass gewisse Phänomene und Entwicklungen nicht zwingend auf nationale Besonderheiten zurückzuführen sind, sondern vielmehr, wie beispielsweise die Friedensbewegungen der Nachkriegszeit, eine international-europäische Komponente aufweisen. Somit kann die internationale Kontextualisierung Wissenschaftler:innen dabei helfen, die Wechselwirkungen dieser Phänomene besser zu verstehen und einzuordnen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Christoph Nübel (Potsdam)

Heike Wieters (Berlin): Begrüßung / Moderation

Christoph Nübel (Potsdam): Thematische Einführung – Staatlichkeit und Streitkräfte als Forschungsproblem

Christoph Nübel (Potsdam): Staatsskepsis, Demokratisierungswelle, Revolution. Das Bundesministerium der Verteidigung und „1968“ in Europa.

Thorsten Loch (Potsdam/Hamburg): Staatsverständnis der Generalität von Bundesrepublik und DDR.

Beatrice de Graaf (Utrecht): Zwischen Polizeistaat und Panzerschlacht. Wechselseitige Wahrnehmungen von Militäreinsätzen im Innern in der niederländischen und westdeutschen Öffentlichkeit.

Holger Nehring (Stirling): Für eine andere Sicherheit: Frieden, Militär und Staatsvorstellungen in den britischen und bundesdeutschen Friedensbewegungen seit den 1950er Jahren.

Christine G. Krüger (Bonn): Die Bedeutung des Militärs in der Staatskritik westdeutscher und britischer Hausbesetzer:innen.

Heike Wieters (Berlin): Resümee

Diskussion

Anmerkung:
1 Siehe u.a. Winfried von Bredow, Demokratie und Streitkräfte, Militär, Staat und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2000; Bernhard R. Kroener, Kriegswesen, Herrschaft und Gesellschaft 1300 -1800, München 2013; Werner Rösener (Hrsg.), Staat und Krieg, Vom Mittelalter bis zur Moderne, Göttingen 2000.

https://www.historikertag.de/Leipzig2023/
Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts